Roberto Assagioli
Psychosynthese. Harmonie des Lebens
Vorwort von Ulla Pfluger-Heist
Das italienische Original dieses Buches erschien 1966 und war das erste Buch über Psychosynthese für italienische LeserInnen. Damals schrieb William Mackenzie, Arzt und Dozent an der Universität von Genf, im Vorwort:
"Ein gewaltiges Werk erschien 1965 in New York unter dem Titel Psychosynthesis - A Manual of Principles and Techniques.(1) Bis zum heutigen Tag stellt es die Krönung von den mehr als fünf Jahrzehnten andauernder Forschung und Praxis des italienischen Arztes und Psychotherapeuten Dr. Roberto Assagioli dar. Ich möchte der Hoffnung Ausdruck geben, dass dieses Grundlagenwerk ins Italienische übersetzt wird, denn das vorliegende Buch ist - wie auch vom Autor selbst angemerkt - keine Übersetzung des o.g. Werkes. Vielmehr handelt es sich hier um eine umgangssprachliche Darlegung der Hauptideen des Autors, die er mit der ihm eigenen Beharrlichkeit und Unermüdlichkeit verfolgt und verfeinert hat. Ich hatte das Glück, seine Arbeit aus der Nähe zu verfolgen und auch deren treffliche Anwendung bei vielen Patienten - unter ihnen auch viele Jugendliche -, die psychische Hilfe benötigten und von Dr. Assagioli geheilt wurden." (2)
Das Buch basiert auf 20 Vorträgen, die Roberto Assagioli auf Initiative des Institutes für Psychosynthese in Rom gehalten hat (3). Er sprach dort nicht ausdrücklich für Fachleute, sondern für ein geistig offenes und im humanistischen Sinne an psychologischen und erzieherischen Fragestellungen interessiertes Publikum. Diese Vorträge geben einen weiteren, vertiefenden Einblick in Denken und Blickwinkel des Begründers der Psychosynthese, in die „integrale und dynamische Konzeption des Menschen“ die er entwickelt hat als „eine Psychologie der ‚drei Dimensionen’, die nicht nur die bewusste Persönlichkeit, sondern auch deren unbewusste Aspekte mit einschließt, sowohl in der Tiefe (niederes Unbewusstes) wie auch in die Höhe (Überbewusstes und spirituelles Selbst)“.(4)
In diesem Buch, das die Psychosynthese als „weit gespannte Bewegung des Denkens und der praktischen Anwendung“ (2) vorstellt, werden „auf konkrete, man könnte auch sagen auf ‚spirituell praktische’ Art und Weise die grundlegenden Probleme des Lebens oder, um einen gerade gängigen Ausdruck zu verwenden, die ‚existenziellen Probleme’ des Menschen behandelt: Was oder wer ist der Mensch; Bewusstsein und Unbewusstes; Sexualität und Liebe; psychische Konflikte; Aggressivität; im Menschen latent vorhandenes geistiges Potential und dessen Aktivierung usw..“ (4)
Assagiolis „Schaffenswerk weist ein besonderes Charakteristikum auf“, wie Mackenzie in seinem Vorwort sagt: „Es atmet ‚Spiritualität’. Ja, sprechen wir dieses Wort, das den ‚Positivisten’, die sich noch immer für die einzigen Vertreter der ‚’wahren Wissenschaft’ halten, leider verhasst ist, nur ganz offen aus. In diesem Sinn ist Assiagiolis Werk zweifellos antikonformistisch zu nennen. Aber es ist auch wissenschaftlich, insgesamt zutiefst menschlich und von großem erzieherischem Wert: Denn das Bedürfnis nach spiritueller Erhebung ist nunmal eines der grundlegenden Bedürfnisse des Menschen, sobald sich dieser der Schwelle zur Zivilisation nähert. Es anzuerkennen ist folglich nicht nur wissenschaftlich gerechtfertigt, sondern auch angemessen.“
Obwohl das Erscheinen des italienischen Originals inzwischen über 40 Jahre zurückliegt, hat diese Einschätzung von William Mackenzie nichts von ihrer Aktualität verloren: Die ‚Positivisten’ halten sich mehr denn je für die einzigen Vertreter der Wissenschaften und Assagiolis Hoffnung, dass diese materialistischen, die menschliche Würde diffamierenden Konzepte allmählich an Bedeutung verlieren, wie er dies im Text ausdrückt (5), hat sich leider bis heute im wissenschaftlichen „Zeitgeist“ nicht durchsetzen können, und das „Bedürfnis nach spiritueller Erhebung“ wird auch heute keineswegs als grundlegendes menschliches Bedürfnis anerkannt.
Innerhalb dieses wissenschaftlichen Zeitgeistes gibt es gleichwohl eine andere Entwicklung, die sich in aller Stille, fast unbemerkt zu vollziehen scheint. Die gelebte Praxis sieht nämlich oft ganz anders aus. Ins dialogische Miteinander von Psychotherapeuten und deren Patienten, von Beratern oder Coaches und deren Klienten, in Gruppen und Teams im Bereich von Wirtschaft und Organisationsentwicklung, in klinische Settings und in Schule und Erwachsenenbildung wandern stetig und unaufhaltsam jene Konzepte und Methoden hinein, wie sie Roberto Assagioli und andere Forscher und Praktiker der Transpersonalen Psychologie entwickelt haben. Sie wandern hinein, oft unter etwas anderen Namen und mit anderer Bedeutung.
Assagioli und andere hatten begonnen, jene Schulungs- und Übungsmethoden in Psychologie und Psychotherapie einzuführen, die dem Weisheitswissen der spirituellen Wege und der religiösen Traditionen, vor allem deren mystischen Zweigen, entstammen und die den Weg der inneren Erfahrung gehen. Die Mystiker der christlichen, jüdischen und muslimischen, jene der hinduistischen, buddhistischen oder taoistischen Traditionen haben den inneren Raum des Schweigens gekannt und beschrieben und Wege aufgezeigt, wie dieser tiefere Seelenraum gefunden und erfahren und die Qualitäten des Höheren Unbewussten in die Persönlichkeit und in den Lebensalltag integriert werden können.
Die Einführung der spirituellen Dimension sah Assagioli als logische Weiterentwicklung der Psychologie und vor allem der Psychoanalyse. Er betrachtete die spirituelle Erfahrung als zutiefst therapeutisch, weil in ihr die Heilungs- und Wandlungskräfte stecken, die zum Erwachen der Seele führen, jene Wandlungskräfte, die die Mangelzustände und Konflikte der Persönlichkeit überwinden können. Bei Assagioli sind die Methoden und Übungen zur Erweckung und Entwicklung der Kräfte des höheren Unbewussten unauflösbar mit ihrer spirituellen Ausrichtung auf den eigentlichen Kern der menschlichen Psyche, das Selbst verbunden.
Diese Ausrichtung geht heute oft verloren: Zum Beispiel sind in der Klientenzentrierten Psychotherapie von Carl Rogers und der von Eugene Gendlin daraus weiter entwickelten Methode des Focusing Achtsamkeit und Akzeptanz zentral, ohne dass damit eine spirituelle Ausrichtung verbunden wäre. Auch in die Psychodynamische Imaginative Traumatherapie nach Reddemann (6) sind Konzept und Praxis der Achtsamkeit (mindfulness), des offenen Gewahrseins eingegangen, ebenso wie in verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapien (mindfulness based psychotherapies, MBP, z.B.: Jon Kabat-Zinn, John D. Teasdale, Marsha M. Linehan) - ohne spirituelle Motivation.
Auf diese Weise wurden andere Bewusstseinzustände in Psychologie und Psychotherapie eingeführt, sind Schritte der "Bewusstseinserweiterung“ vollzogen worden, wie sie in Assagiolis Psychosynthese unter den Begriffen „disidentifiziertes Ich“, „Beobachter“ und, noch weitergehend, „transpersonaler Zeuge“ in ein Menschenbild eingebettet sind, das viele Bewusstseinsstufen kennt und deren Entwicklung anstrebt.
Man könnte sagen, dass sich so ein erweitertes Selbst- und Weltbild in die herkömmliche Psychologie und Psychotherapie eingeschlichen hat, allerdings ohne auf seine Herkunft zu verweisen.
Assagioli, so glaube ich, hätte sich darüber gefreut! Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn aus der geistigen Sphäre „herunterlächeln“. Da er ein ganz bescheidener Mensch war, hätte es ihn gewiss nicht gestört, dass heute nur wenige das, was er einstens in Psychologie und Psychotherapie mit eingeführt hat, mit seinem Namen in Verbindung bringen. Er hätte diese Entwicklung vermutlich als Beweis für das Wirken des Geistes betrachtet, „der in allen Geschöpfen lebt und durch sie wirkt“. (1, S. 76)
Das einzige, was Assagioli wohl beklagen würde, wäre die „Entseelung“, die allerorten stattfindet und die die Konzepte und Methoden aus ihrem ursprünglichen Kontext des spirituellen Weisheitswissens herauslöst, sozusagen „ent-spiritualisiert“.
Diese Entwicklung ist sehr umfassend zu beobachten, zum Beispiel wenn der Ganzheitsbegriff seinen spirituellen Bezug verloren hat: Ob der einflussreiche Psychotherapieforscher Klaus Grawe eine Psychologie befürwortet, die sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt und nicht nur Probleme sieht, sondern auch Ressourcen, oder die Positive Psychologie, eine neuere, aus den Vereinigten Staaten von Amerika kommende akademische Disziplin, Qualitäten wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, Verzeihen und Solidarität erforscht – dieser Ganzheitsbegriff bleibt ohne Tiefe, er beinhaltet nicht das Verständnis von notwendiger Wandlung und Transformation.
Wirft man Mehl, Eier, Zucker und weitere Zutaten in eine Schüssel und vermengt sie miteinander, wird ja noch lange kein Kuchen daraus! Der Teig muss erst noch durch einen Prozess des Verbindens und Verwandelns, des Voneinander-Scheidens und Wieder-Verschmelzens, des Erhitzens und des Neuwerdens hindurch. Und von allem Anbeginn an muss der Kuchen schon in der Imagination des Bäckers vorhanden sein – die Bäckerin muss sich von Anfang an auf den Kuchen ausrichten und Kuchen backen wollen.
Roberto Assagiolis Psychosynthese pflegt ein komplexes, mehrdimensionales Menschenbild: Es umfasst das Ganze und seine Teile, Einheit und Vielfalt und fügt es in ein Bild. Dazu ist es erforderlich, „von innen her, mit dem Selbst eines Menschen zu beginnen, mit seinem Anwesendsein.“ (1. S. 47). Von diesem eigentlichen Kern der menschlichen Psyche, dem Selbst ausgehend, können nun die einzelnen Persönlichkeitsanteile betrachtet und erforscht und weiter entwickelt werden, so dass die Person immer wieder über das Bisherige hinauswachsen, neu werden, ein größeres, umfassenderes Menschsein verwirklichen kann.
Diesen Prozess des Wachstums im Sinne einer Transformation nennt Assagioli
Psychosynthese. In diesem Prozess ist die innere Intention entscheidend, denn „spirituelle Bedeutung und innere Wirkung eines jeglichen Handelns hängt wesentlich von den tiefen Beweggründen ab, durch die es inspiriert ist.“ (7. S. 287) Die Ausrichtung ist hier, wie beim Kuchenbacken, entscheidend!
Neben Assagiolis klarer Analyse der menschlichen Persönlichkeit, seinem tiefen Verständnis der unbewussten Schichten psychischer Aktivität und seiner unermüdlichen Betonung der Bedeutung der spirituellen Erhebung für Entwicklung und Heilung kommt in diesem Buch andererseits auch Assagiolis Einbettung in die kulturelle Perspektive seiner Zeit zum Ausdruck. Einige dieser Textpassagen sollten unter dem Blickwinkel ihrer historischen Einbettung gelesen werden. Bei anderen haben sich die Herausgeber entschlossen, Abschnitte, die zu sehr vom patriarchalischen Blickwinkel jener Jahre durchdrungen sind und für das Verständnis von Assagiolis Prozess der Psychosynthese nichts Wesentliches beitragen, heraus zu nehmen. Auch die wenigen Abschnitte, die Techniken und Methoden aus der „Kinderzeit“ von Psychologie und Psychotherapie beschreiben, haben wir herausgenommen, weil sie von der Entwicklung inzwischen überholt wurden. Es handelt sich dabei um einige wenige Seiten.
Beachtlich ist hingegen das, was bleibt und von aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen bestätigt wird. Viele von Assagiolis Erkenntnissen werden heute durch die Entwicklung neuer Forschungsmethoden, beispielsweise durch bildgebende Verfahren, wie sie auch in der Gehirnforschung eingesetzt werden, überhaupt erst empirisch nachweisbar.
So hat Assagioli schon in jenem „gewaltigen Werk“, das in deutscher Sprache unter dem Titel „Handbuch der Psychosynthese“ erschienen ist, von den „enormen Reserven seelischer Energie“ gesprochen, die „in jedem von uns latent sind, das heißt, den formbaren Teil unseres Unbewussten, der uns zur Verfügung steht und uns befähigt, in grenzenlosem Umfang zu lernen und zu erschaffen.“ (1. S. 66) Erst vor wenigen Jahren ist die Gehirnforschung auf dieselbe Erkenntnis gestoßen, die seither als revolutionär gilt! Dass die Plastizität, die Formbarkeit des Gehirns, über die ganze Lebensspanne erhalten bleibt, war allerdings eine der ganz großen Überraschungen, weil bislang galt: Was Hänschen nicht lernt… Stattdessen wurde offenbar, dass unser Kopf sogar das mit Abstand veränderlichste Organ beherbergt, das wir Menschen besitzen. Was Hänschen nicht gelernt hat, kann Hans eben immer noch lernen und sich dabei nicht nur in bislang unbekannte Regionen wagen, sondern auch zu neuen Höhen aufschwingen!
In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern mit den Worten William Mackenzies "in diesem schönen Buch eine wertvolle Hilfe auf dem Weg zu der von uns allen angestrebten "Harmonie des Lebens" zu finden".
Anmerkungen
1. Assagioli, R. (2004): Handbuch der Psychosynthese. Grundlagen, Methoden, Techniken, Nawo-Verlag CH- 8153 Rümlang/ZH
2. Mackenzie in: Assagioli, R. (1966 ): Psicosintese Per L’armonia della vita. Istituto di Psicosintesi, Firenze
3. Obwohl das “gewaltige Werk” als “Manual” (Handbuch) in englischer Sprache ein Jahr vor der „Harmonie des Lebens“ erschien, stammen die Texte der „Harmonie“ früheren, teilweise wahrscheinlich sehr frühen Jahren. Leider konnten wir sie zeitlich nicht präzise zuordnen. Einige von Assagiolis Gedanken sind in diesem Buch noch nicht so ausgereift und geklärt, wie sie dann im „Handbuch“ erscheinen.
4. Assagioli, Vorwort zur italienischen Originalausgabe, s. Anmerkung 2
5. vgl. S. 45 in diesem Buch: „Aber nun verlieren diese engstirnigen, unzureichenden, willkürlichen, die menschliche Würde diffamierenden, deprimierenden und hoffnungslosen Konzepte langsam an Bedeutung. Man beginnt, Wert und spirituelle Bedeutung der unterschiedlichen Aufgaben und Funktionen des Menschen zu begreifen und zu unterstreichen.“
6. Luise Reddemann bezieht sich in den Literaturangaben ihrer Fortbildungs-Handouts auf Roberto Assagioli.
7. Assagioli, R. (2008): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung, Nawo-Verlag CH- 8153 Rümlang/ZH
Vogt im Allgäu, März 2010 Ulla Pfluger-Heist