Der wird zur Pflanze, wenn er will,
zum Tier, zum Narr, zum Weisen
und kann in einer Stunde still
durchs ganze Weltall reisen.
Wer Schmetterlinge lachen hört… Eine höchst außergewöhnliche Fähigkeit wird hier beschrieben und genau das braucht es auch, damit so etwas wie Weisheit erwachsen kann: Das diskursive, lineare, logische, analysierende Denken kann nicht zur Weisheit führen. Etwas anderes als das Logische muss dazukommen, der nächtliche Mondschein, die Nachtseite des Bewusstseins muss sich unserem taghellen Wissen und Können hinzufügen dürfen. Das Gedicht beschreibt, was geschieht, wenn uns dies gelingt.
Dann fügen sich unserem Bewusstseinsspektrum bisher unbewusste Bereiche hinzu, nämlich die tief in uns verborgenen vegetativen Empfindungswelten und die animalischen Instinkt-, Gefühls- und Trieb-Kräfte, im Gedicht ausgedrückt in der Fähigkeit, zur Pflanze oder zum Tier zu werden. In moderner, neurobiologischer Sprache ausgedrückt geht es hier um die tiefen, unbewussten Schichten unseres Reptiliengehirns, also des Hirnstammes und jene des limbischen Systems, des emotionalen Gehirns, die ja, wie schon die Psychoanalyse gezeigt und die Gehirnforschung inzwischen nachgewiesen hat, dem rationalen Bewusstsein nicht direkt zugänglich sind. Und doch können sie auf geheimnisvolle Weise dem Rationalen hinzugefügt werden, so dass ein größeres Bewusstseinsganzes entsteht.
Das Gedicht stellt den Narr und den Weisen dazu, die zum Bereich der Instinkt-, Gefühls, und Triebkräfte unseres tieferen Unbewussten noch die Weisheits- und Wahrheitskräfte unseres höheren Unbewussten hinzufügen. Wenn all dies beieinander ist, so heißt es im Gedicht, kann man in einer Stunde still durchs ganze Weltall reisen. In einer inneren Reise, die eine neue Erkenntnisform ermöglicht, eine überschauende Erkenntnis, die aus der inneren Stille geboren wird. Eine solche Reise kann die Entfernung zwischen Hongkong und New York spielend überbrücken. An dieser Reise können alle Elektrons bis hin zum Rande des Universums teilhaben. Auch wenn wir uns das nicht vorstellen können, weil es ja eben gerade die Möglichkeiten unserer Vorstellungskraft übersteigt.
Auf diese Weise, so beschreibt es das Gedicht, kann Weisheit das Ganze erfassen - das All -, eine höchst geheimnisvolle und erstaunliche Fähigkeit, die ermöglicht, dass unsere Vorausentwürfe, also sozusagen unsere „Wettervorhersagen“ stimmig und passend werden. Denn das Ganze enthält ja nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern auch die Zukunft, und das zu fassen, fällt unserem Verstand nicht leicht. Aber nur aus solcher Ganzheitssicht heraus kann die Frage gestellt werden: „Was ist jetzt zu tun, damit eine gute Zukunft daraus hervorgehen kann?“ Eine schwierige Frage, über die kräftig gestritten wird in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Religion, weil ja niemand die Zukunft wirklich kennt, weil es darüber kein exaktes Wissen gibt und auch nicht geben kann, wie die Chaosforschung uns klar gemacht hat.
Für die Ganzheitssicht benötigen wir eine andere geistige Funktion, eine, die wir erst auszubilden beginnen, wir brauchen einen neuen, überschauenden Blickwinkel, wir brauchen den Blickwinkel aus dem All.
In der Metapher des Billardspieles gesprochen: Dieser Blickwinkel macht es möglich, zu intuieren, wohin die Kugeln rollen werden, je nachdem, wie wir sie anstoßen. Das ist kein Wissen. Wissen kann das niemand. Es ist mehr ein Ahnen, Erschauen, Ertasten, Erspüren, Er-leben (im Sinne von Hinein-leben).
Wenn unser Bewusstsein ganz wird - oder, lassen Sie uns, damit es nicht so absolutistisch wird, lieber sagen: wenn unser Bewusstsein ganzer wird, kompletter als bisher – dann hat unsere Intuition eine gute Basis, um zu ermöglichen, dass die Kugeln auf dem Billardtisch unseres Lebens dahin rollen, wo sie sollen. Dann hat unsere Intuition eine gute Basis, damit unsere Flügelschläge kein Unwetter, sondern gutes Wetter bis hin nach New York hervorbringen können.
Die Ganzheit des Bewusstseins muss Bewusstes und Unbewusstes mit einbeziehen, Denken und Fühlen, Rationales und Irrationales. Aber wie kann das gehen? Das Denken kann es nicht allein und das Fühlen auch nicht. Das Tagesbewusstsein kann es nicht allein, aber auch das Traumbewusstsein nicht. Wir sind gewohnt, zwischen beiden hin- und herzuwechseln, aber auch das ist nicht die Lösung. Wenn wir einmal mehr aus dem Denken heraus die Dinge anschauen, aus dem „Kopf“ und ein anderes Mal aus dem „Bauch“, wie man so sagt, kommen halt immer zwei verschiedene Sichtweisen heraus, die oft ganz unvereinbar sind. Wir sind hier wieder bei unserem Apfelproblem angelangt: Wenn wir Rationales und Irrationales, Materie und Geist, Sichtbares und Unsichtbares einfach nur zusammenwerfen, kommt noch lange kein neues, lebendiges Ganzes heraus. Der Apfel muss wachsen in einem lebendigen Wachstumsprozess. Auch unser Bewusstsein muss wachsen in einem lebendigen Wachstumsprozess.
Oder im Schmetterlingsbild gesprochen: Die Raupe muss sich verpuppen, damit der Schmetterling erscheinen kann. Verstand und Gefühl, Tagbewusstsein und Traumbewusstsein brauchen einen Kokon, in dem sie sich verpuppen und etwas Neues heranwachsen lassen können; einen Kokon, in dem das Entweder - Oder sich verpuppen und etwas Neues hervorbringen kann: ein Sowohl-als-auch.
Wo können wir einen solchen Ort zur Verpuppung finden: Einen Ort, der nicht entweder Kopf oder Bauch ist, sondern beide umfassen kann? Einen Ort, an dem Kopf und Bauch miteinander sprechen lernen, in einen Dialog eintreten können, der Neues hervorbringt: Ein fühlendes Wissen und ein wissendes Fühlen. Metaphorisch gesprochen wäre dieser Ort das Herz. Das Herz als Ort, der weder die Perspektive des Kopfes, noch jene des Bauches einnimmt, sondern einen dritten Blickwinkel ermöglicht: Es ist der Blickwinkel des liebevollen Wahrnehmens, der Ort der Offenheit und Akzeptanz. Der Ort der liebevollen Annahme dessen, was ist.
Das offene Herz ist ein Erkenntnisinstrument ganz eigener Art. Während der Kopf das Instrument des Denkens ist und der Bauch das Instrument des Fühlens, ist das Herz das Instrument des Schauens. Und so wie die anderen Instrumente, muss auch dieses entwickelt, trainiert und geschliffen werden.
Aus der Herzkraft – und Sie verstehen ja, dass ich vom Herzen hier nicht als Organ spreche, sondern als Symbol! - entspringt eine neue Kompetenz: Das Schauen, das Erspüren, das Vergegenwärtigen, das Gewahrsein.
Die Herzenskraft als drittes Erkenntnisinstrument hilft uns, etwas ganz Neues zu lernen: Sie hilft uns, unsere Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu vertiefen, sie hilft uns dabei, ganz im gegenwärtigen Augenblick präsent zu sein. Wir brauchen ja gar nicht vorherzusagen, was sein wird. Es genügt, anwesend zu sein, offenherzig und geistesgegenwärtig, und wahrzunehmen, was ist: Die Zukunft ist ja gar kein dunkles Irgendwo in ferner Zeit. Die Zukunft beginnt jetzt, hier und heute, zwischen uns, in diesem Moment. Jetzt und jetzt und wieder jetzt.
Wenn wir mit den Augen des Herzens schauen, können wir lernen, so gegenwärtig zu sein, dass wir die Zukunftskeime wahrnehmen, die hier vor unseren Augen bereits hervor sprießen. Mit den Augen des Herzens können wir erschauen, ertasten, erahnen, gewahren was diese erscheinende Zukunft braucht, was diese hier und jetzt sich gestaltenden, auf uns zukommenden neuen Möglichkeiten, die wir Zukunft nennen, von uns wollen. Wenn wir mit den Augen des Herzens schauen, können wir zum Mittler werden zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, und uns zu unserem nächsten Schritt führen lassen.
Das Herz als Erkenntnisinstrument ist der Ort der Präsenz, ist der Raum der inneren Stille, des zu sich Kommens. Hier hat das innere Wissen seine Heimat und wenn wir uns darin üben, ihm zu lauschen, es zu erspüren, dann können wir aus uns heraus entstehen lassen, was zu tun ist. Dann können wir geschehen lassen, dass ganz neue Lösungen aus unserer inneren Tiefe auftauchen.
Dazu ist es hilfreich, sozusagen einen winzigen Schritt innerlich zurückzutreten, inne zu halten, so dass unsere tief eingeschliffenen Denkstrukturen und Reaktionsmuster nicht wie gewohnt zum Zuge kommen. Dazu ist es hilfreich, sich in innerer Stille einzuüben und das Loslassen zu erlernen, loslassen, bis in eine tiefe Entspannung des Körpers, des Denkens und auch des Fühlens hinein. Stillwerden, Dasein, Offensein im Hier und Jetzt: So können wir die unscheinbare kleine Ausfahrt aus unseren eingefahrenen Gehirnautobahnen finden. So können sich neue Wege öffnen.
So kann die Frage Raum gewinnen: Was will werden? Was will geschehen? Was ist der nächste Schritt?
In der Stille des inneren Raumes können wir eine Antwort entstehen lassen, können wir geschehen lassen, dass die Antwort aus dieser tiefen inneren Quelle der Kreativität und der Weisheit heraus zu uns kommt, aus dieser tiefen Quelle, die wir alle in uns tragen. Wir können die Antwort zu uns kommen lassen, wenn wir die Richtung unserer Aufmerksamkeit umkehren: Wenn wir nicht mehr mit den immer gleichen Augen schauen und fühlen, was wir schon immer gefühlt haben, und denken, was wir schon immer gedacht haben, und losgehen und tun, was wir immer schon getan haben. Wir können die Antwort zu uns kommen lassen, wenn wir innehalten und uns nach innen wenden, dorthin, wo alle Weisheit entspringt.
„Die Innenkehr“, schreibt Roberto Assagioli, „kann noch weitaus mehr bewirken als die Herstellung des seelischen Gleichgewichts und der psychischen Gesundheit.(...) Wenn wir in uns gehen, entdecken wir unser psychisches Zentrum, unser wahres Wesen, den intimsten Teil von uns, dies ist eine Offenbarung und gleichzeitig eine Bereicherung.“ (Assagioli 2008, S. 91)
Wenn wir uns nach innen wenden, sagt Assagioli, entdecken wir unser wahres Wesen, unser psychisches Zentrum und wenn wir es erst einmal gefunden haben, beschreibt er dies als Offenbarung und als Bereicherung,
Aber machen wir uns nichts vor: Diese Richtungsänderung ist nicht einfach zu vollziehen. Dieses Sich-Verlangsamen, das Zurückhalten der Reaktion, das Zurücktreten, Innehalten, Stillwerden, Sich-Öffnen ist Schwerarbeit. Zu eingefahren sind unsere Gehirnautobahnen, zu verkrustet unsere Denk- Gefühls- und Handlungsmuster. Sie infrage zu stellen, ist unbequem, sie zu durchbrechen eine Herausforderung. Viele Menschen üben die innere Stille heute ja in unterschiedlichsten Arten der Meditation. Aber auch dann bleibt es noch ein anspruchsvolles Unterfangen, dies auch ins alltägliche Leben zu übertragen. Es zu verwirklichen und zu verkörpern in der geübten Geistesgegenwart unseres versammelten Herzens im Hier und Jetzt. Es so ins Leben zu integrieren, dass das alltägliche Denken, Fühlen und Handeln sich wirklich wandelt in Richtung Weisheit.
Das ist immer wieder ein Weg durchs Nadelöhr, weil wir dazu die Sicherheit aufgeben müssen, die unsere Denkmuster uns bedeuten. Wir halten uns ja an unseren gewohnten Denkstrukturen und Glaubenssystemen geradezu fest. Wollen wir sie loslassen, müssen wir uns öffnen, die Kontrolle aufgeben und das Unbekannte willkommen heißen, das gänzlich Neue, das Nicht-Gewusste. Dieser Durchgang durchs Nadelöhr ist unabdingbar, wenn wir wirklich auf die neue, tiefere –oder höhere – Ebene gelangen wollen, auf der die Weisheit zuhause ist.
Auf eine solche „höhere“ Ebene psychischer Organisation gelangt man nicht zufällig, nicht einfach so. Ursula Staudinger hatte uns gewarnt, dass dieser Weg ein steiniger sei.
Weisheit ist eine größere Kraft, ebenso wie Freude, Vertrauen oder Harmonie und alle diese können sich erst dann entfalten und uns zur Verfügung stehen, wenn sich viele verschiedene Fähigkeiten und Kompetenzen zusammengefügt, integriert und in ein neues Ganzes geformt, eine Synthese erreicht haben. Freude z.B. ist nicht gleichzusetzen mit „Sich-gut-fühlen“. Wirkliche Freude ist die Kraft und Fähigkeit dem Leben mit Bejahung und offenem Herzen entgegen zu treten, unabhängig davon, ob es angenehm oder unangenehm ist, ob es mir gefällt oder nicht. Um dorthin zu gelangen, muss man viel Schwerem standgehalten haben.
Auch Gesundheit ist nicht einfach das Ergebnis der Summierung von bestimmten Maßnahmen, die das Krankwerden vielleicht verhindern können. Wenn wir das Wort im Sinne des Salutogenese-Gedankens benutzen, dann verstehen wir sie als Fähigkeit, aktiv eine ganz eigene, individuelle Integration von Körper, Seele und Geist zu erschaffen, eine neue Ganzheit, die sogar das Kranksein mit einschließen kann. Auch dies erfordert einen Sprung, eine Integration, eine Synthese und oft erwächst sie erst als Frucht eines langen Ringens mit einer Krankheit. Viele Menschen berichten dann davon, dass sie ein ganz neues Körper- und Lebensgefühl gewonnen haben. Bisher haben diese Menschen ihren Körper und ihre Befindlichkeit vielleicht gar nicht wahrgenommen. Solange nichts weh tut, fühlen viele Leute, wenn man sie fragt, „gar nichts“. Erst nach einer durch gestandenen Krankheit haben sie Zugang zu sich gewonnen, sie können ihren Körper jetzt wirklich von innen spüren, fühlen, was ihnen gut tut, und was sie brauchen, sie wohnen jetzt in ihrem Leib, haben ihn durchdrungen, sich zu eigen gemacht und beseelt. Erst jetzt kann man von Gesundheit in dem Sinne sprechen, wie die Salutogenese es meint.
Und so ist Weisheit auch nicht die kognitive Fähigkeit eines besonders gut ausgebildeten Denkvermögens oder eines umfassenden Wissens. Um weise zu sein, braucht man nicht einmal einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, wie die Weisheitswissenschaftler herausgefunden haben. Natürlich braucht man, um die Fragen und Themen des menschlichen Daseins zu durchdringen, eine gewisse Denkfähigkeit. Aber im Wesentlichen geht es um eine neue Koordination zwischen Denken, Fühlen und Wollen, die den Sprung auf die Ebene der Weisheit ermöglicht, auf jene Ebene, auf der das Bewusstsein für das Leben als Ganzes aufzuscheinen beginnt; auf der ein Bewusstsein für die Wirkungen der Flügelschläge des Schmetterlings erscheint. Und so wie wirkliche Gesundheit auch das Kranksein umschließen kann, umfasst auch wirkliche Weisheit das Nicht-Wissen. Denn das Bewusstsein davon, dass es bei allem Wissen, das wir haben, immer noch viel mehr gibt, was wir nicht wissen, und dass wir niemals alles wissen können, ist sie Basis dafür, dass Weisheit sich entwickeln kann. Das sokratische „ich weiß, das ich nichts weiß“ – ist eine Erkenntnis, die uns heute schwer fällt. In Zeiten von Atomkraft und Gentechnologie scheinen Naturwissenschaft und Technologie immer mehr einem Allmacht- und Machbarkeitsdenken zu verfallen und sich vom Weisheitsstreben zu entfernen. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ bedeutet dagegen, sich im Nicht-Wissen zu beheimaten und der unvorhersehbaren Entwicklung des Lebens eine Tür offen zu halten, es bedeutet, sozusagen dem Chaos, also dem, was noch im Schoße der Zukunft ruht, und was wir noch gar nicht mit unserem heutigen begrenzten Verstand erfassen können, eine Chance zu lassen. Es bedeutet, dass wir zulassen können, dass die Zukunft größer und anders werden wird, als wir uns das heute ausdenken können. Dass wir ein Bewusstsein davon haben, dass die Zukunft immer offen ist, jederzeit wandelbar.
Weisheit als Bewusstsein für das Leben als Ganzes umfasst das Wissen und das Nicht-Wissen in liebendem Verstehen. Zu solch ganzheitlicher Erkenntniskraft kann sich die Weisheit allerdings nur dann erheben, wenn sie auch hohe moralische und ethische Werte verfolgt. Je höher die ethischen Prinzipien, auf die sie sich ausrichtet, desto weiter, umfassender und tiefgründiger ist ihr Blickwinkel. Zu diesem Thema kann ich aus Zeitgründen nicht mehr so viel sagen, wie erforderlich wäre, denn es ist ganz wichtig, wenn es um Weisheit geht. „Stelle dein Leben unter einen Stern“, hat Leonardo da Vinci einmal gesagt. Die Sterne als Symbol für hohe, gute, lebensspendende Zielsetzungen begleiten die Menschheitsgeschichte ja schon von alters her. Denken Sie nur an die Weisen aus dem Morgenland. Oder an die frühen Seefahrer, die nur die Sterne hatten, um ihr Ziel zu erreichen und dort auch wirklich anzukommen.
Solche Sterne, die sichere Orientierung geben, tauchen am inneren Bewusstseinshimmel dann auf, wenn wir uns mit den Grundfragen unserer menschlichen Existenz befassen: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist der Sinn des Ganzen? Was ist meine Aufgabe darin? Solche Sterne tauchen am Bewusstseinshimmel auf, wenn nicht mehr nur die Frage nach dem Warum des Lebens, sondern auch die Frage nach dem Wozu gestellt wird: Wozu lebe Ich? Was ist das Ziel? Das ist ja in der Essenz eine Frage nach der Zukunft, nach dem, worauf wir hinleben wollen.
Wir bringen ständig Zukunft hervor. Wir sind stetig beteiligt an dem, was sich ereignet und wie sich unser Leben und auch die größere Welt um uns her weiterentwickelt. Wir schlagen ständig mit den Flügeln. Wir können gar nicht nicht mit den Flügeln schlagen. Die Frage ist dabei nur: Bringen wir gutes Wetter – oder Unwetter hervor? In unserem unmittelbaren Lebensumfeld und auch in New York? Das ist eine lebenswichtige Frage, die immer wichtiger wird, je mächtiger die Technologien und Einflussmöglichkeiten werden, die wir zur Verfügung haben. Also brauchen wir auch ganz dringlich die inneren Kompetenzen, die uns einen verantwortungsvollen Umgang damit ermöglichen. Also brauchen wir Kompetenzen, die uns ermöglichen, von der Zukunft her zu fühlen, zu denken und zu handeln. Also machen wir uns doch einfach auf den Weg, der zwar steinig, aber doch höchst lohnenswert ist, auf den Weg der Weisheit!
Lifing: Die Kunst lange vital zu leben – aus eigener Kraft. Das ist auf jeden Fall eine gute Basis zur Weisheitsentwicklung. Ich würde Ihnen zusätzlich gerne noch das Wiseing ans Herz legen: Die Kunst, zu verstehen, wie alles zusammenhängt und die Kunst, den eigenen Platz im großen Lebensganzen einzunehmen.
Wiseing: Dazu müssen wir unser langes, vitales Leben aus eigener Kraft nutzen, um über den Rahmen unseres eigenen persönlichen Lebens hinauszugehen, andere Menschen unterstützen und auch hineinreichen in ein größeres gesellschaftliches Lebensumfeld, hineinreichen bis in Fragen und Themen ökologischer, sozialer, politischer Natur. So kann eine Weisheit erwachsen, die sich ums Ganze kümmert und das Ganze im Sinn hat. Eine Weisheit, die bedenkt, dass unsere Schmetterlingsflügelschläge gutes Wetter, aber auch Unwetter in ganz fernen Regionen unserer Erde erzeugen können, bis hin zu jedem einzelnen Elektron am Rande des Universums.
Denn die „Vervollkommnung des Menschen“, sagt der Weisheitsforscher Paul Baltes, „muss an sich eine sein, die sich nicht nur auf die Person bezieht, sondern auch auf das Gemeinwohl.“ Weisheit wohnt niemals dort, wo „eine egozentrische und egoistische Position „eingenommen wird, die vor allem dem Einzelnen für sich selbst ein besseres Leben geben soll.“ (Deutschlandfunk, 6.4.06) Weisheit wohnt nur dort, wo ein größerer Stern am Himmel steht, der über allen scheint und alle mit einbezieht. Weisheit wohnt dort, wo das Bewusstsein herrscht, dass derselbe Sternenhimmel über uns allen steht und wir Teil eines größeren Ganzen sind.
Es gibt da eine schöne Anekdote, die Roberto Assagioli sehr geliebt hat:
Ein Wissenschaftler, ein gewisser Mr. Beebe, verbrachte viele Abende mit seinem Freund, dem damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten Theodore Roosevelt. Eines Abends traten die beiden ins Freie, um den Sternenhimmel zu bewundern. Als sie den schwachen Andromeda Nebel erkennen konnten, sagte Beebe: „Dies ist der Andromeda Nebel. Er ist so groß wie die Milchstraße. Er ist einer von Millionen außergalaktischer Nebel, er besteht aus Millionen Sonnen, von denen jede größer als unsere Sonne ist.” An diesem Punkt unterbrach ihn Roosevelt und sagte lächelnd: „Ich glaube, wir sind jetzt klein genug. Wir können zu Bett gehen.” (Giovetti, S. 3)
Können sie erspüren, welch hohem Stern dieser Wissenschaftler folgte? Können sie erkennen, wie weit sein Blickwinkel sich auf diese Weise öffnen, wie umfassend seine Schau werden konnte?
Wiseing: Ist es nicht großartig, dass die Berliner Wissenschaftler die Weisheit als Thema aufgegriffen haben? Dass wir sie nicht in Schubladen verbannen, sie als „alte Mythen“ und „Kindermärchen“ abtun, sondern verstehen, dass die Märchen und Mythen uns Wichtiges berichten, eine Botschaft bringen wollen, die bis in unser Alltagsleben vordringen darf. Immer, wenn die Wissenschaft ein Thema aufzugreifen beginnt, wird es ernst. Dann gewinnt es an Popularität und wird gesellschaftsfähig. Vielleicht stehen wir von einer ganz großen „Alphabetisierungskampagne“ zur Weisheit? Wäre das nicht ein erstrebenswertes Ziel?
* Vortrag, gehalten am 3. Oktober 2009 auf der Herbsttagung der Gesellschaft für Gesundheits- und Mentalberatung (GGMB) mit dem Titel: Lifing: Die Kunst lange vital zu leben – aus eigener Kraft. Neue Aufgabengebiete für Gesundheits- und Mental-Couches
Literatur
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Assagioli, R. (2008 b): Gespräche über das Selbst. Eine Unterhaltung mit Roberto Assagioli. In: Psychosynthese, Zeitschrift, 10.Jg., Heft 18, 3-6, Nawo-Verlag, CH-8153 Rümlang/ZH
Assagioli, R. (2009): Harmonie des Lebens, Nawo-Verlag, CH-8153 Rümlang/ZH
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Gradl, V. (2009): Von der Wissenschaft der Mütter, Eigenverlag, Terfens
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