Weise werden, aber wie?
Eine Entdeckungsreise in die Zukunft*

Lifing: Die Kunst lange vital zu leben – aus eigener Kraft, so heißt diese Tagung und um diese Kunst geht es bei Ihrem Zusammentreffen. Prof. Decker hat mich eingeladen, hier zu sprechen, und daraus schließe ich, dass er glaubt, dass die Kunst der Weisheit damit verbunden sein könnte. Für mich ist diese Verbindung ganz offensichtlich und ich hoffe, dass ich Ihnen diese in den nächsten 45 Minuten verständlich machen kann.
Weise werden, aber wie? Dies ist auch deshalb eine Entdeckungsreise in die Zukunft, weil die Weisheitsforschung noch ganz am Anfang steht. Sie ist erst in den letzten Jahren in den Fokus der Wissenschaft getreten; eine neue und spannende Entwicklung. Bislang war die Weisheit noch im Reich der Religion und im Reich der Märchen und Mythen beheimatet – was ja bedeutet, dass man sie nicht für verwirklichbar hielt. Sie war eine schöne Geschichte, eine unrealistische und illusionäre Vorstellung. Das beginnt sich nun zu verändern.
Die Weisheitsforschung wurde in Deutschland vor ca.10 Jahren vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung initiiert. Das erste Forschungsprojekt, geleitet von Paul Baltes und Ursula Staudinger, hieß „Weisheit und lebenslange Entwicklung". Im Verlauf von 15 Jahren wurden in diesem Projekt fast 1000 Frauen und Männer nach einem "Weisheitskatalog" befragt.
Zuerst mussten sich die Wissenschaftler darauf einigen, was sie unter Weisheit verstehen. Weisheit wurde z.B. definiert als „Gipfel menschlicher Erkenntnisfähigkeit und menschlichen Handelns“ oder als Expertentum in Lebenskunde, „das sich in höchstem Wissen und höchster Urteilsfähigkeit im Umgang mit schwierigen Problemen der Lebensplanung, Lebensgestaltung und Lebensdeutung zeigt".
Eine andere Definition benennt Weisheit als „perfekte Synergie von Geist und Charakter, die Fähigkeit ein guter Ratgeber zu sein, und um die Ungewissheiten des Lebens zu wissen.“ Die perfekte Synergie von Geist und Charakter gibt es natürlich nicht. Perfektion ist ein Denkmodell, eine Abstraktion. In der Realität kommt sie nicht vor. Deshalb wird Weisheit auch als utopisches Ideal gesehen, das unerreichbar bleibt. Den höchsten Wert auf der Berliner „Weisheitsskala“, die von 1 – 7 reicht, hat bis heute auch noch niemand je erhalten.
Dass die Wissenschaft ein Thema wie „Weisheit“ aufgreift, geschieht im Rahmen des Paradigmenwechsels, den wir zurzeit auf allen Ebenen erleben, z.B. auch in unserem Verständnis von Gesundheit und Krankheit.
In den letzten Jahren ist, wie Sie ja sicherlich wissen, der Begriff der Salutogenese aufgekommen. Darin steckt die Frage nach der Gesundheit – und nicht mehr nach der Krankheit. Das scheint Ihnen vielleicht selbstverständlich zu sein. Der Blick auf die Gesundheit ist aber – so wie auch jener auf die Weisheit - erst seit etwa 10 Jahren in der Medizin und der Gesundheitspolitik angekommen (im englischen Sprachraum schon 30 Jahre früher).
Bis dahin hatte die Medizin sozusagen rückwärts gedacht: Gesundheit wurde verstanden als Vermeidung von Krankheit, und man hat sich eigentlich erst mit ihr beschäftigt, wenn sie verloren gegangen war. Heute verstehen wir die Gesundheit allmählich als etwas, das es aktiv anzustreben, zu pflegen und zu fördern gilt, weil sie dem Gewinn an Lebensqualität dient. Aber diese Lebenseinstellung ist im Durchschnitt der Bevölkerung noch längst nicht verbreitet, so wie bei Ihnen allen, sonst wären Sie ja nicht hier.
Auch im Bereich der seelischen Gesundheit war solches Rückwärtsdenken bis vor kurzem noch gang und gäbe. Im Fokus der Aufmerksamkeit standen emotionale und mentale Störungsbilder. Was seelische Gesundheit ausmacht war kein Thema und schon gar nicht deren höchstentwickelte Formen wie die Weisheit.
Das Wissenschaftsverständnis der Moderne tut sich ja sowieso schwer mit positiven Qualitäten wie Freude oder Harmonie, Schönheit oder Liebe, Begeisterung oder Glück, Humor oder Authentizität, Optimismus oder Vertrauen oder eben mit der Weisheit. Inzwischen werden solche wünschenswerten menschlichen Kräfte von der Positiven Psychologie aufgegriffen, einer ganz neuen Entwicklung der akademischen Psychologie, die sozusagen die Salutogenese innerhalb der Psychologie verankern will. Aber das Wissen um solche stärkenden oder auch „größeren“ Kräfte gab es in der Psychologie und Psychotherapie bereits seit Anfang des letzten Jahrhunderts, als viele sich nicht mehr mit der konflikt-, störungs- und problemorientierten – also einer defizitorientierten - Sichtweise zufriedengeben wollten. Daraus entstand die Humanistische Psychologie und auch die Transpersonale Psychologie – Therapieschulen, die übrigens bis heute von den Krankenkassen nicht finanziert werden, sondern explizit ausgeschlossen sind.
Alle diese „größeren“ Qualitäten – wie ich sie jetzt mal bezeichnen möchte - sind nicht leicht zu definieren: Gesundheit z.B. oder Weisheit. Wann ist jemand gesund? Wenn keine Krankheiten nachgewiesen werden können? Wann ist jemand krank?
Ist jemand krank, der körperlich nachweisbare Schädigungen hat, sich aber gut und lebendig fühlt und kein Defizit erlebt? Da gibt es z.B. eine schon lange dauernde Diskussion im Bereich der Krebserkrankungen, u.a. beim Prostatakrebs. Autopsien ergeben bei älteren Männern häufig einen Befund, auch wenn dieser Mann sich nicht krank gefühlt hat, nicht beeinträchtigt war und auch nicht an diesem verborgen gebliebenen Karzinom gestorben ist, sondern z.B. an Herzversagen oder er ist einfach eingeschlafen, weil es Zeit war. Ein anderes Beispiel, das mir besonders gut gefällt, ist das von Nonnen in Minnesota, USA die ihre geistige Klarheit bis ins hohe Alter erhalten hatten. Autopsien erbrachten erstaunliche Ergebnisse: Einige von ihnen wiesen nämlich eindeutige Anzeichen von Alzheimer auf. Der Gehirnforscher, bei dem ich dieses Beispiel gefunden habe, sagt dazu: „Das Gehirn der Nonnen war von Alzheimer betroffen, aber ihr Geist war es nicht.“ (Goldberg, S. 165) Eine interessante Unterscheidung: Ihr Gehirn war krank, aber ihr Geist nicht!
Wann ist jemand gesund? Wann ist jemand krank? Über diese Fragen muss ganz neu nachgedacht werden. Es gilt, ein neues Verständnis davon zu entwickeln, eine umfassendere Sichtweise, eine Ganzheitssicht.
Weder Gesundheit noch Weisheit können so eindeutig definiert und klar festgeschrieben werden, wie wir das gerne hätten. Weisheit kann z.B. nicht daran festgemacht werden, was einer weiß. Weisheit im Sinne eines Ganzheitsphänomens kann nicht mit Wissen gleichgesetzt werden, obwohl dieses auch zu ihr beiträgt. Aber Weisheit geht über das Kognitive hinaus. Das Kognitive umfasst das, was wir rational wissen können, weil wir es erfahren oder gelernt haben, oder deduktiv abgeleitet oder empirisch nachgewiesen. All das ist die klassische Domäne der Wissenschaft, und deshalb ist es ganz stimmig, dass die Wissenschaften so lange gebraucht haben, um sich einem solch komplexen Phänomen wie der Weisheit zuzuwenden.
Auch die Berliner Weisheitswissenschaftler waren sich der Problematik ihres Forschungsprojektes bewusst: Denn Wissenschaft muss operationalisieren, wie der Fachbegriff dafür heißt. Das bedeutet, dass der Forschungsgegenstand sozusagen zurechtgestutzt werden muss, so dass er handhabbar wird, er muss zerlegt werden, so dass er mit den Mitteln der wissenschaftlichen Methode untersucht werden kann und verallgemeinerbare Aussagen darüber gemacht werden können.
Und hier ist eine Fallgrube verborgen, deren man sich bewusst sein muss, damit man nicht hinein fällt: Die Fallgrube, dass dabei das Eigentliche, der Wesenskern, das Lebendige heraus fällt. Nehmen wir einmal einen Apfel als Beispiel. Will man ihn analysieren, muss man ihn in seine Bestandteile zerlegen. Jetzt weiß man etwas darüber, was er enthält. Nimmt man aber die einzelnen Bestandteile und mischt sie zusammen, wird noch lange kein Apfel daraus, auch dann nicht, wenn man wirklich alle Bestandteile des Apfels kennen würde. Denn seine Komponenten sind in einem lebendigen Wachstumsprozess entstanden, in einem Wachstumsprozess, der das Geheimnis des Lebens in sich birgt, das sich jeder Untersuchung letztlich entzieht. Es kann nur erahnt werden, erschaut, erfahren.
So ist es auch mit der Weisheit: Versucht man sie in ihre Einzelkomponenten zu zerlegen, findet man verschiedene Komponenten, die in den Bereich kognitiver und emotionaler Funktionen gehören, wie z.B.: Wissen und Können, guter Umgang mit Gefühlen und Emotionen, die Fähigkeit, sich in eine andere Person hineinzuversetzen, Toleranz, der Wille, sich ethische Prinzipien zu eigen zu machen und nach ihnen zu leben, die Kraft, um die Unsicherheiten der menschlichen Existenz zu wissen und sie nicht zu verleugnen usw. Aber wenn wir all das zusammenmischen, ergibt das dann wirklich Weisheit?
Die Weisen aus den alten Mythen und Märchen scheinen Gaben zu besitzen, die über solche kognitiven, emotionalen und ethischen Fähigkeiten hinausgehen und die recht geheimnisvoll sind. Sie wissen beispielsweise auch um Verborgenes. Sie schauen ins Herz der Menschen, sie haben, um in psychologischer Sprache zu sprechen, ein unbewusstes Wissen, mit dem sich die exakten Wissenschaften bis heute schwer tun. Sie haben auch - in wissenschaftlich höchst unzulässiger Weise - eine erstaunliche Vorausschau. Sie schauen also nicht nur bis auf den Grund der Dinge, sie schauen anscheinend auch bis in die Zukunft hinein.
In unserem heutigen Alltagsverständnis benutzen wir den Weisheits-Begriff allerdings ganz anders. Kürzlich bin ich sogar auf den Begriff „Börsenweisheit“ gestoßen. „Börsenweisheit“, und das in Zeiten der Finanzkrise! Dann gibt es noch die sogenannten „Wirtschaftsweisen“. Sie erhalten die Weisheit wohl deshalb zugeschrieben, weil man von ihnen Voraussagen erwartet für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung und es ist eben das Vorausschauende, für das Weisheit erforderlich ist. Wissen allein reicht dafür ganz und gar nicht aus.
Das zeigen uns die Wirtschaftsprognosen, die wir ständig in den Zeitungen lesen, die von Menschen gemacht werden, die viel Wissen über diesen Bereich haben, z.B. eben jene „Wirtschaftsweisen“. Deren Prognosen werden in der Krise, in der wir stecken, in kurzen Abständen korrigiert. Damit zeigen sie keine große Weisheit, sondern bleiben halt Prognosen.
Prognosen nämlich werden auf der Basis einer Analyse vergangener und aktueller Gegebenheiten gemacht, die in die Zukunft hinein projiziert werden. So sollen zukünftige Entwicklungen vorhergesehen werden. In stabilen Zeiten funktionieren sie meist ganz gut, in Zeiten von Krisen, Veränderung und Wandel aber eher schlecht, das erleben wir in diesen Tagen schmerzlich. In Krisenzeiten wird das bisher einigermaßen einschätzbare System nämlich chaotisch.
Mit solchen chaotischen Systemen, deren Dynamik nicht linear verläuft, so dass ihr Verhalten langfristig nicht vorhersagbar ist, befasst sich die Chaosforschung, ein Teilgebiet von Mathematik und Physik. In dieses Forschungsgebiet möchte ich einen kurzen Abstecher mit Ihnen machen. Ein chaotisches System ist z.B. das Wetter, auch die Wirtschaft und die Politik, die Entstehung und Auflösung von Verkehrsstaus, sowie neuronale Netze, also die Verschaltungsmuster im Gehirn und deren Weiterbau, Ausbau und Umbau und damit alles menschliche Verhalten überhaupt.
Auch der Lauf der Kugeln auf einem Billiard-Tisch gehört dazu: Eine Billardkugel lässt sich in ihrem Verlauf noch berechnen, aber zwei schon nicht mehr! Ihr chaotisches Verhalten lässt sich in folgende Metapher fassen:
„Um vorherzusagen, wie die Kugeln rollen werden, darf man nicht einmal die Anziehungskraft eines einzigen Elektrons am Rande der Milchstraße vernachlässigen.“
Die Anziehungskraft eines jeden einzelnen Elektrons bis hin zum Rande des Universums muss in der Berechnung mit enthalten sein. Das ist ja ganz unvorstellbar! Und solange wir die Anziehungskraft jedes einzelnen Elektrons im ganzen Universum nicht mitdenken können - und das können wir ja nicht und werden es auch niemals können -, scheinen die Billardkugeln so zu rollen, wie es ihnen gerade passt. Da ist es höchst erstaunlich, dass es Spieler gibt, die mit hoher Sicherheit wirklich dorthin treffen, wo sie hin treffen wollen. Ihre Erfahrung, Intuition und Geschicklichkeit kann also viel mehr als die reine Berechnung kann! Beim Billardspielen erscheint uns das zwar eindrucksvoll, aber durchaus nicht unmöglich.
Und doch ist das, wenn wir von den Erkenntnissen der Chaosforschung ausgehen, ein Beispiel menschlichen Tiefenwissens oder auch Vorauswissens, das ganz erstaunlich ist.
Interessante Erkenntnisse hat die Chaosforschung aus der Meteorologie gewonnen. Es ist ja höchst wünschenswert, das Wetter mit einiger Sicherheit prognostizieren zu können, deshalb wird hier viel geforscht und dabei wurde ein Phänomen entdeckt, das Sie vielleicht kennen, nämlich der sogenannte Schmetterlingseffekt.
Der Schmetterlingseffekt geht auf einen Meteorologen namens Edward Lorenz zurück, der eines Tages eine Wetterlage mit zwei verschiedenen Ausgangszahlen berechnete. Dabei rundete er die 6. Dezimalstelle einmal nach oben und einmal nach unten ab. Das macht eine allerwinzigste Abweichung. Dann ließ er den Computer laufen und ging zum Mittagessen. Als er zurückkam, erwartete ihn etwas, das ihn reichlich aus dem Häuschen brachte: Die beiden Wettersysteme, die der Computer errechnet hatte, waren nämlich nicht nur leicht abweichend voneinander, sondern sie waren komplett verschieden! Er schloss daraus, dass allerkleinste Veränderungen zu unabsehbaren Folgen führen können. Das ist inzwischen als Schmetterlingseffekt in die Chaostheorie eingegangen und wird in einer sehr poetischen Metapher ausgedrückt:
„Wenn ein Schmetterling in Hongkong mit den Flügeln schlägt, kann er in New York ein Unwetter auslösen.“
Und diesen winzigen, unscheinbaren, luftigen Schmetterlingsflügelschlag möchte ich hier als Bild, als Metapher benutzen, um zu umschreiben, was ich unter Weisheit verstehe und warum ich glaube, dass es nicht nur ein höchst lohnenswertes Ziel ist, Weisheit anzustreben, sondern warum ich sie auch für dringend nötig halte, wichtig und nötig für die eigene emotionale, mentale und spirituelle Gesundheit, aber auch für die emotionale, mentale und spirituelle Gesundheit auf größerer, sozialer, gesellschaftlicher, globaler Ebene.
Ich glaube, dass wir für die komplexen Zusammenhänge unserer heutigen menschlichen Lebenswelt nicht mehr mit Wissen allein auskommen. Am Billardtisch unserer ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebenszusammenhänge brauchen wir dringend solche Spieler, deren Erfahrung, Intuition und Geschicklichkeit die Möglichkeiten der Berechnung durchaus übersteigt! Wir brauchen Spieler, die Weisheit ausgebildet haben. Wir brauchen Spieler, die sich auf den Weg machen, Weisheit zu entwickeln. Und das ist natürlich sehr viel anspruchsvoller als Billard spielen. Stellen Sie sich den Schmetterlingseffekt vor: Welche vielfältigen Komponenten müssen wohl dazu kommen, so dass der Flügelschlag des Schmetterlings in Hongkong ein Unwetter in York bewirkt? Das ist unausdenkbar komplex. Wie viel Weisheit ist wohl vonnöten, um den Weg zwischen Hongkong und New York zu überbrücken? Wie viel Weisheit braucht es wohl, um zu verstehen, was die eigenen Flügelschläge in Hongkong auslösen können bis hin nach New York?
Denn – so habe ich mir gedacht - es geht ja auch andersherum: Der Flügelschlag eines Schmetterling muss ja dann doch auch gutes Wetter in New York bewirken können. Und die Frage, wie ein Flügelschlag beschaffen sein könnte, der gutes Wetter über die Erdkugel schickt, ist die Frage, die ich wirklich faszinierend finde! Denn das ist ja die Domäne der Weisheit: Weisheit befasst sich – in der Schmetterlingsmetapher gesprochen - mit der Frage, wie gutes Wetter in New York und anderswo hervorgebracht werden kann. Weisheit befasst sich mit dem Zusammenspiel des Ganzen und umfasst dabei die großen und auch die kleinen Fragen menschlichen Lebens.
Weisheit ist die Kunst, zu verstehen, wie alles zusammenhängt, wie alles sich gegenseitig beeinflusst und bedingt und wie es sich zu einem lebendigen Ganzen zusammenfügt. Eine sehr komplexe Angelegenheit! Die systemischen Denkansätze, die dieses berücksichtigen, sind ja noch ganz jung und überfordern unser Denkmöglichkeiten, unsere Großhirnkapazitäten manchmal ganz schön, wenn es gilt, viele Gegebenheiten und mehrere Ebenen gleichzeitig im Auge zu behalten und vernetzt zu bedenken.
Dafür ist viel mehr gefordert als fürs Billardspielen. Weisheit, als Kunst zu verstehen, „wie alles sich zum Ganzen fügt", erfordert viel mehr als einen guten Umgang mit den Gesetzen der Physik, einen geschickten Einsatz des eigenen Körpers und Erfahrung mit dem Spiel auf dem überschaubaren Billardtisch. Es braucht vieles darüber hinaus, das sich für mich im poetischen Bild des Schmetterlings fassen lässt: Der Schmetterling bewegt sich nicht nur in einem viel größeren, sich verändernden Lebensraum, sondern er ist selbst auch der Veränderung unterworfen, er ist ein Wandlungskünstler, der einen Entwicklungsweg gehen muss: Von der Raupe durch die Verpuppung hindurch bis zur in der Luft gaukelnden, zart-durchscheinenden Lichtgestalt des Schmetterlings, verkörpert er das ganze Spektrum von der materiellen über die geistige bis hin zur spirituellen Dimension, also die ganze, umfassende Komplexität unseres Menschseins und unseres Reifungs- und Entwicklungsweges. Und er verkörpert auch, was die Weisheitsforscherin Ursula Staudinger immer wieder betont: Weise wird nur, wer bereit ist, einen unbequemen, steinigen Weg zu gehen. Wer ihn beschreite, sagt sie, müsse Dinge in Frage stellen, unbequem sein und die gegebenen Umstände verändern und verbessern wollen (DIE ZEIT Nr.11, 6.3. 08, S. 34). Deshalb gehen laut Statistik auch nur zwei von hundert den Weg der Weisheit. So wie der Schmetterling. Er muss durch mühsame Stadien der Veränderung und Verwandlung hindurch. Er kann dabei auch auf der Strecke bleiben. Nicht jede Raupe erhebt sich schließlich als Schmetterling in die Lüfte. Viele kommen gar nicht so weit.
Die Schmetterlingsmetapher kann uns noch weiter tragen: Die Raupe muss sich verpuppen, ihr Raupendasein aufgeben, hinter sich lassen, als Raupe sterben und eine schwierige und geheimnisvolle Wandlung im Kokon durchlaufen, damit sie sich dann als Schmetterling in die Lüfte erheben kann. So ist es auch im menschlichen Leben: Weisheit wird uns nicht geschenkt. Sie kommt nicht von selbst. Weder Wissen noch Lebensalter oder Lebenserfahrung reichen dazu aus. Die banale und ungeliebte Wahrheit ist: Ohne Krisen keine Weisheit. Es braucht dazu Erschütterungen, die das Leben gehörig durcheinanderwirbeln. Ohne Erschütterungen können wir leicht im Raupenstadium stecken bleiben. Keine Verpuppung geschieht. Kein Schmetterling erscheint.
Es sind die Konfrontationen mit den existentiellen Themen menschlichen Lebens, die uns aus einem gemütlichen – vielleicht auch gefräßigen - Raupenleben aufrütteln und uns zwingen, nach neuen Lösungen zu suchen und über uns hinauszuwachsen. Die vier großen Themen, die zum Tor der Weisheit führen, sind nach Ursula Staudinger: Emotionalität, Sexualität, Verletzlichkeit und Endlichkeit. Sie sind die Grundthemen des Menschseins, die Themen, die uns an unsere Grenzen bringen können – und vielleicht auch über sie hinaus bis zur Weisheit. Allerdings sind auch Krisen noch kein Garant dafür, dass Weisheitsentwicklung geschieht, es muss noch mehr dazu kommen.
Eine ganz wichtige weitere Komponente ist die Unterstützung, die ein Mensch erfährt, der in einer Krise steckt. Fühlt man sich allein gelassen, wird das Gefühl der Hilflosigkeit zu übermächtig, dann droht Resignation. Gute Begleiter sind entscheidend dafür, wie jemand eine Lebenskrise bewältigt. Die Berliner Forscher geben den dringenden Rat, sich Mentoren zu suchen, wenn man den Weisheitsweg beschreiten möchte. Gute Mentoren, die selbst schon Weisheit entwickelt haben, so dass wir ein lebendiges Bild davon vor Augen haben. Ein Bild, dem wir nachstreben können.
Weisheit ist ein Wachstumsprojekt. Man kann sie nicht so erlernen wie das Einmaleins. Mit Auswendiglernen kommt man nicht weiter. Wenn wir unsere Schmetterlingsmetapher auf menschliche Lebenszusammenhänge, Themen, Entscheidungen und Zukunftsfragen anwenden, wird deutlich, wie unendlich viele einzelne Elektrons bis hin zum Rande des Universums es gibt, die ja, wie wir wissen, alle beachtet, mitbedacht und einbezogen werden müssen. Kein Gehirn kann das kognitiv erfassen. Können Sie sich vorstellen, was die Weisheit alles mit bedenken und einbeziehen können muss, damit die Schmetterlingsflügelschläge unseres persönlichen Denkens, Fühlens und Handelns gutes Wetter in New York bringen und dort kein Unwetter hereinbricht? Denn dann gesellen sich ja zu all den Elektrons bis hin zum Rand des Universums, die einzubeziehen sind, auch noch die unzähligen „seelischen Elektrons“ hinzu, die unsere menschliche Bewusstseinswelt bevölkern.
Keine einfache Angelegenheit. Weisheit ist etwas Geheimnisvolles. Sie scheint sich zusammenzusetzen aus etwas Wissbarem und etwas Unwissbarem, oder, anders gesagt: Weisheit ist eine Qualität, die erst dann erscheint, wenn das Bewusstsein ganz geworden ist.
Die Ganzheit des Bewusstseins enthält zwei polare Bereiche oder Kräfte:
Bewusstes und Unbewusstes
Verstand und Gefühl
Wachbewusstsein und Traumbewusstsein
Rationales und Irrationales
Materie und Geist
Sichtbares und Unsichtbares
Persönlichkeit und Seele
Werden beide Seiten dieser Polaritäten nicht nur berücksichtigt, sondern wirklich integriert, entsteht ein neues, komplexeres Ganzes, das neue Fähigkeiten und Möglichkeiten mit sich bringt.
Um eine Ahnung davon zu bekommen, um was es dabei geht, möchte ich sie ins Land der Dichtung entführen. Ich hoffe, sie haben Freude daran und folgen mir ins poetische Land der Schmetterlingsweisheit, von der das untenstehende Lied der Rockband Novalis erzählt:
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken,
der wird im Mondschein ungestört
von Furcht die Nacht entdecken.

Der wird zur Pflanze, wenn er will,
zum Tier, zum Narr, zum Weisen
und kann in einer Stunde still
durchs ganze Weltall reisen.
Wer Schmetterlinge lachen hört… Eine höchst außergewöhnliche Fähigkeit wird hier beschrieben und genau das braucht es auch, damit so etwas wie Weisheit erwachsen kann: Das diskursive, lineare, logische, analysierende Denken kann nicht zur Weisheit führen. Etwas anderes als das Logische muss dazukommen, der nächtliche Mondschein, die Nachtseite des Bewusstseins muss sich unserem taghellen Wissen und Können hinzufügen dürfen. Das Gedicht beschreibt, was geschieht, wenn uns dies gelingt.
Dann fügen sich unserem Bewusstseinsspektrum bisher unbewusste Bereiche hinzu, nämlich die tief in uns verborgenen vegetativen Empfindungswelten und die animalischen Instinkt-, Gefühls- und Trieb-Kräfte, im Gedicht ausgedrückt in der Fähigkeit, zur Pflanze oder zum Tier zu werden. In moderner, neurobiologischer Sprache ausgedrückt geht es hier um die tiefen, unbewussten Schichten unseres Reptiliengehirns, also des Hirnstammes und jene des limbischen Systems, des emotionalen Gehirns, die ja, wie schon die Psychoanalyse gezeigt und die Gehirnforschung inzwischen nachgewiesen hat, dem rationalen Bewusstsein nicht direkt zugänglich sind. Und doch können sie auf geheimnisvolle Weise dem Rationalen hinzugefügt werden, so dass ein größeres Bewusstseinsganzes entsteht.
Das Gedicht stellt den Narr und den Weisen dazu, die zum Bereich der Instinkt-, Gefühls, und Triebkräfte unseres tieferen Unbewussten noch die Weisheits- und Wahrheitskräfte unseres höheren Unbewussten hinzufügen. Wenn all dies beieinander ist, so heißt es im Gedicht, kann man in einer Stunde still durchs ganze Weltall reisen. In einer inneren Reise, die eine neue Erkenntnisform ermöglicht, eine überschauende Erkenntnis, die aus der inneren Stille geboren wird. Eine solche Reise kann die Entfernung zwischen Hongkong und New York spielend überbrücken. An dieser Reise können alle Elektrons bis hin zum Rande des Universums teilhaben. Auch wenn wir uns das nicht vorstellen können, weil es ja eben gerade die Möglichkeiten unserer Vorstellungskraft übersteigt.
Auf diese Weise, so beschreibt es das Gedicht, kann Weisheit das Ganze erfassen - das All -, eine höchst geheimnisvolle und erstaunliche Fähigkeit, die ermöglicht, dass unsere Vorausentwürfe, also sozusagen unsere „Wettervorhersagen“ stimmig und passend werden. Denn das Ganze enthält ja nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern auch die Zukunft, und das zu fassen, fällt unserem Verstand nicht leicht. Aber nur aus solcher Ganzheitssicht heraus kann die Frage gestellt werden: „Was ist jetzt zu tun, damit eine gute Zukunft daraus hervorgehen kann?“ Eine schwierige Frage, über die kräftig gestritten wird in Politik und Wirtschaft, in Wissenschaft und Religion, weil ja niemand die Zukunft wirklich kennt, weil es darüber kein exaktes Wissen gibt und auch nicht geben kann, wie die Chaosforschung uns klar gemacht hat.
Für die Ganzheitssicht benötigen wir eine andere geistige Funktion, eine, die wir erst auszubilden beginnen, wir brauchen einen neuen, überschauenden Blickwinkel, wir brauchen den Blickwinkel aus dem All.
In der Metapher des Billardspieles gesprochen: Dieser Blickwinkel macht es möglich, zu intuieren, wohin die Kugeln rollen werden, je nachdem, wie wir sie anstoßen. Das ist kein Wissen. Wissen kann das niemand. Es ist mehr ein Ahnen, Erschauen, Ertasten, Erspüren, Er-leben (im Sinne von Hinein-leben).
Wenn unser Bewusstsein ganz wird - oder, lassen Sie uns, damit es nicht so absolutistisch wird, lieber sagen: wenn unser Bewusstsein ganzer wird, kompletter als bisher – dann hat unsere Intuition eine gute Basis, um zu ermöglichen, dass die Kugeln auf dem Billardtisch unseres Lebens dahin rollen, wo sie sollen. Dann hat unsere Intuition eine gute Basis, damit unsere Flügelschläge kein Unwetter, sondern gutes Wetter bis hin nach New York hervorbringen können.
Die Ganzheit des Bewusstseins muss Bewusstes und Unbewusstes mit einbeziehen, Denken und Fühlen, Rationales und Irrationales. Aber wie kann das gehen? Das Denken kann es nicht allein und das Fühlen auch nicht. Das Tagesbewusstsein kann es nicht allein, aber auch das Traumbewusstsein nicht. Wir sind gewohnt, zwischen beiden hin- und herzuwechseln, aber auch das ist nicht die Lösung. Wenn wir einmal mehr aus dem Denken heraus die Dinge anschauen, aus dem „Kopf“ und ein anderes Mal aus dem „Bauch“, wie man so sagt, kommen halt immer zwei verschiedene Sichtweisen heraus, die oft ganz unvereinbar sind. Wir sind hier wieder bei unserem Apfelproblem angelangt: Wenn wir Rationales und Irrationales, Materie und Geist, Sichtbares und Unsichtbares einfach nur zusammenwerfen, kommt noch lange kein neues, lebendiges Ganzes heraus. Der Apfel muss wachsen in einem lebendigen Wachstumsprozess. Auch unser Bewusstsein muss wachsen in einem lebendigen Wachstumsprozess.
Oder im Schmetterlingsbild gesprochen: Die Raupe muss sich verpuppen, damit der Schmetterling erscheinen kann. Verstand und Gefühl, Tagbewusstsein und Traumbewusstsein brauchen einen Kokon, in dem sie sich verpuppen und etwas Neues heranwachsen lassen können; einen Kokon, in dem das Entweder - Oder sich verpuppen und etwas Neues hervorbringen kann: ein Sowohl-als-auch.
Wo können wir einen solchen Ort zur Verpuppung finden: Einen Ort, der nicht entweder Kopf oder Bauch ist, sondern beide umfassen kann? Einen Ort, an dem Kopf und Bauch miteinander sprechen lernen, in einen Dialog eintreten können, der Neues hervorbringt: Ein fühlendes Wissen und ein wissendes Fühlen. Metaphorisch gesprochen wäre dieser Ort das Herz. Das Herz als Ort, der weder die Perspektive des Kopfes, noch jene des Bauches einnimmt, sondern einen dritten Blickwinkel ermöglicht: Es ist der Blickwinkel des liebevollen Wahrnehmens, der Ort der Offenheit und Akzeptanz. Der Ort der liebevollen Annahme dessen, was ist.
Das offene Herz ist ein Erkenntnisinstrument ganz eigener Art. Während der Kopf das Instrument des Denkens ist und der Bauch das Instrument des Fühlens, ist das Herz das Instrument des Schauens. Und so wie die anderen Instrumente, muss auch dieses entwickelt, trainiert und geschliffen werden.
Aus der Herzkraft – und Sie verstehen ja, dass ich vom Herzen hier nicht als Organ spreche, sondern als Symbol! - entspringt eine neue Kompetenz: Das Schauen, das Erspüren, das Vergegenwärtigen, das Gewahrsein.
Die Herzenskraft als drittes Erkenntnisinstrument hilft uns, etwas ganz Neues zu lernen: Sie hilft uns, unsere Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt zu vertiefen, sie hilft uns dabei, ganz im gegenwärtigen Augenblick präsent zu sein. Wir brauchen ja gar nicht vorherzusagen, was sein wird. Es genügt, anwesend zu sein, offenherzig und geistesgegenwärtig, und wahrzunehmen, was ist: Die Zukunft ist ja gar kein dunkles Irgendwo in ferner Zeit. Die Zukunft beginnt jetzt, hier und heute, zwischen uns, in diesem Moment. Jetzt und jetzt und wieder jetzt.
Wenn wir mit den Augen des Herzens schauen, können wir lernen, so gegenwärtig zu sein, dass wir die Zukunftskeime wahrnehmen, die hier vor unseren Augen bereits hervor sprießen. Mit den Augen des Herzens können wir erschauen, ertasten, erahnen, gewahren was diese erscheinende Zukunft braucht, was diese hier und jetzt sich gestaltenden, auf uns zukommenden neuen Möglichkeiten, die wir Zukunft nennen, von uns wollen. Wenn wir mit den Augen des Herzens schauen, können wir zum Mittler werden zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, und uns zu unserem nächsten Schritt führen lassen.
Das Herz als Erkenntnisinstrument ist der Ort der Präsenz, ist der Raum der inneren Stille, des zu sich Kommens. Hier hat das innere Wissen seine Heimat und wenn wir uns darin üben, ihm zu lauschen, es zu erspüren, dann können wir aus uns heraus entstehen lassen, was zu tun ist. Dann können wir geschehen lassen, dass ganz neue Lösungen aus unserer inneren Tiefe auftauchen.
Dazu ist es hilfreich, sozusagen einen winzigen Schritt innerlich zurückzutreten, inne zu halten, so dass unsere tief eingeschliffenen Denkstrukturen und Reaktionsmuster nicht wie gewohnt zum Zuge kommen. Dazu ist es hilfreich, sich in innerer Stille einzuüben und das Loslassen zu erlernen, loslassen, bis in eine tiefe Entspannung des Körpers, des Denkens und auch des Fühlens hinein. Stillwerden, Dasein, Offensein im Hier und Jetzt: So können wir die unscheinbare kleine Ausfahrt aus unseren eingefahrenen Gehirnautobahnen finden. So können sich neue Wege öffnen.
So kann die Frage Raum gewinnen: Was will werden? Was will geschehen? Was ist der nächste Schritt?
In der Stille des inneren Raumes können wir eine Antwort entstehen lassen, können wir geschehen lassen, dass die Antwort aus dieser tiefen inneren Quelle der Kreativität und der Weisheit heraus zu uns kommt, aus dieser tiefen Quelle, die wir alle in uns tragen. Wir können die Antwort zu uns kommen lassen, wenn wir die Richtung unserer Aufmerksamkeit umkehren: Wenn wir nicht mehr mit den immer gleichen Augen schauen und fühlen, was wir schon immer gefühlt haben, und denken, was wir schon immer gedacht haben, und losgehen und tun, was wir immer schon getan haben. Wir können die Antwort zu uns kommen lassen, wenn wir innehalten und uns nach innen wenden, dorthin, wo alle Weisheit entspringt.
„Die Innenkehr“, schreibt Roberto Assagioli, „kann noch weitaus mehr bewirken als die Herstellung des seelischen Gleichgewichts und der psychischen Gesundheit.(...) Wenn wir in uns gehen, entdecken wir unser psychisches Zentrum, unser wahres Wesen, den intimsten Teil von uns, dies ist eine Offenbarung und gleichzeitig eine Bereicherung.“ (Assagioli 2008, S. 91)
Wenn wir uns nach innen wenden, sagt Assagioli, entdecken wir unser wahres Wesen, unser psychisches Zentrum und wenn wir es erst einmal gefunden haben, beschreibt er dies als Offenbarung und als Bereicherung,
Aber machen wir uns nichts vor: Diese Richtungsänderung ist nicht einfach zu vollziehen. Dieses Sich-Verlangsamen, das Zurückhalten der Reaktion, das Zurücktreten, Innehalten, Stillwerden, Sich-Öffnen ist Schwerarbeit. Zu eingefahren sind unsere Gehirnautobahnen, zu verkrustet unsere Denk- Gefühls- und Handlungsmuster. Sie infrage zu stellen, ist unbequem, sie zu durchbrechen eine Herausforderung. Viele Menschen üben die innere Stille heute ja in unterschiedlichsten Arten der Meditation. Aber auch dann bleibt es noch ein anspruchsvolles Unterfangen, dies auch ins alltägliche Leben zu übertragen. Es zu verwirklichen und zu verkörpern in der geübten Geistesgegenwart unseres versammelten Herzens im Hier und Jetzt. Es so ins Leben zu integrieren, dass das alltägliche Denken, Fühlen und Handeln sich wirklich wandelt in Richtung Weisheit.
Das ist immer wieder ein Weg durchs Nadelöhr, weil wir dazu die Sicherheit aufgeben müssen, die unsere Denkmuster uns bedeuten. Wir halten uns ja an unseren gewohnten Denkstrukturen und Glaubenssystemen geradezu fest. Wollen wir sie loslassen, müssen wir uns öffnen, die Kontrolle aufgeben und das Unbekannte willkommen heißen, das gänzlich Neue, das Nicht-Gewusste. Dieser Durchgang durchs Nadelöhr ist unabdingbar, wenn wir wirklich auf die neue, tiefere –oder höhere – Ebene gelangen wollen, auf der die Weisheit zuhause ist.
Auf eine solche „höhere“ Ebene psychischer Organisation gelangt man nicht zufällig, nicht einfach so. Ursula Staudinger hatte uns gewarnt, dass dieser Weg ein steiniger sei.
Weisheit ist eine größere Kraft, ebenso wie Freude, Vertrauen oder Harmonie und alle diese können sich erst dann entfalten und uns zur Verfügung stehen, wenn sich viele verschiedene Fähigkeiten und Kompetenzen zusammengefügt, integriert und in ein neues Ganzes geformt, eine Synthese erreicht haben. Freude z.B. ist nicht gleichzusetzen mit „Sich-gut-fühlen“. Wirkliche Freude ist die Kraft und Fähigkeit dem Leben mit Bejahung und offenem Herzen entgegen zu treten, unabhängig davon, ob es angenehm oder unangenehm ist, ob es mir gefällt oder nicht. Um dorthin zu gelangen, muss man viel Schwerem standgehalten haben.
Auch Gesundheit ist nicht einfach das Ergebnis der Summierung von bestimmten Maßnahmen, die das Krankwerden vielleicht verhindern können. Wenn wir das Wort im Sinne des Salutogenese-Gedankens benutzen, dann verstehen wir sie als Fähigkeit, aktiv eine ganz eigene, individuelle Integration von Körper, Seele und Geist zu erschaffen, eine neue Ganzheit, die sogar das Kranksein mit einschließen kann. Auch dies erfordert einen Sprung, eine Integration, eine Synthese und oft erwächst sie erst als Frucht eines langen Ringens mit einer Krankheit. Viele Menschen berichten dann davon, dass sie ein ganz neues Körper- und Lebensgefühl gewonnen haben. Bisher haben diese Menschen ihren Körper und ihre Befindlichkeit vielleicht gar nicht wahrgenommen. Solange nichts weh tut, fühlen viele Leute, wenn man sie fragt, „gar nichts“. Erst nach einer durch gestandenen Krankheit haben sie Zugang zu sich gewonnen, sie können ihren Körper jetzt wirklich von innen spüren, fühlen, was ihnen gut tut, und was sie brauchen, sie wohnen jetzt in ihrem Leib, haben ihn durchdrungen, sich zu eigen gemacht und beseelt. Erst jetzt kann man von Gesundheit in dem Sinne sprechen, wie die Salutogenese es meint.
Und so ist Weisheit auch nicht die kognitive Fähigkeit eines besonders gut ausgebildeten Denkvermögens oder eines umfassenden Wissens. Um weise zu sein, braucht man nicht einmal einen überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten, wie die Weisheitswissenschaftler herausgefunden haben. Natürlich braucht man, um die Fragen und Themen des menschlichen Daseins zu durchdringen, eine gewisse Denkfähigkeit. Aber im Wesentlichen geht es um eine neue Koordination zwischen Denken, Fühlen und Wollen, die den Sprung auf die Ebene der Weisheit ermöglicht, auf jene Ebene, auf der das Bewusstsein für das Leben als Ganzes aufzuscheinen beginnt; auf der ein Bewusstsein für die Wirkungen der Flügelschläge des Schmetterlings erscheint. Und so wie wirkliche Gesundheit auch das Kranksein umschließen kann, umfasst auch wirkliche Weisheit das Nicht-Wissen. Denn das Bewusstsein davon, dass es bei allem Wissen, das wir haben, immer noch viel mehr gibt, was wir nicht wissen, und dass wir niemals alles wissen können, ist sie Basis dafür, dass Weisheit sich entwickeln kann. Das sokratische „ich weiß, das ich nichts weiß“ – ist eine Erkenntnis, die uns heute schwer fällt. In Zeiten von Atomkraft und Gentechnologie scheinen Naturwissenschaft und Technologie immer mehr einem Allmacht- und Machbarkeitsdenken zu verfallen und sich vom Weisheitsstreben zu entfernen. „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ bedeutet dagegen, sich im Nicht-Wissen zu beheimaten und der unvorhersehbaren Entwicklung des Lebens eine Tür offen zu halten, es bedeutet, sozusagen dem Chaos, also dem, was noch im Schoße der Zukunft ruht, und was wir noch gar nicht mit unserem heutigen begrenzten Verstand erfassen können, eine Chance zu lassen. Es bedeutet, dass wir zulassen können, dass die Zukunft größer und anders werden wird, als wir uns das heute ausdenken können. Dass wir ein Bewusstsein davon haben, dass die Zukunft immer offen ist, jederzeit wandelbar.
Weisheit als Bewusstsein für das Leben als Ganzes umfasst das Wissen und das Nicht-Wissen in liebendem Verstehen. Zu solch ganzheitlicher Erkenntniskraft kann sich die Weisheit allerdings nur dann erheben, wenn sie auch hohe moralische und ethische Werte verfolgt. Je höher die ethischen Prinzipien, auf die sie sich ausrichtet, desto weiter, umfassender und tiefgründiger ist ihr Blickwinkel. Zu diesem Thema kann ich aus Zeitgründen nicht mehr so viel sagen, wie erforderlich wäre, denn es ist ganz wichtig, wenn es um Weisheit geht. „Stelle dein Leben unter einen Stern“, hat Leonardo da Vinci einmal gesagt. Die Sterne als Symbol für hohe, gute, lebensspendende Zielsetzungen begleiten die Menschheitsgeschichte ja schon von alters her. Denken Sie nur an die Weisen aus dem Morgenland. Oder an die frühen Seefahrer, die nur die Sterne hatten, um ihr Ziel zu erreichen und dort auch wirklich anzukommen.
Solche Sterne, die sichere Orientierung geben, tauchen am inneren Bewusstseinshimmel dann auf, wenn wir uns mit den Grundfragen unserer menschlichen Existenz befassen: Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was ist der Sinn meines Lebens? Was ist der Sinn des Ganzen? Was ist meine Aufgabe darin? Solche Sterne tauchen am Bewusstseinshimmel auf, wenn nicht mehr nur die Frage nach dem Warum des Lebens, sondern auch die Frage nach dem Wozu gestellt wird: Wozu lebe Ich? Was ist das Ziel? Das ist ja in der Essenz eine Frage nach der Zukunft, nach dem, worauf wir hinleben wollen.
Wir bringen ständig Zukunft hervor. Wir sind stetig beteiligt an dem, was sich ereignet und wie sich unser Leben und auch die größere Welt um uns her weiterentwickelt. Wir schlagen ständig mit den Flügeln. Wir können gar nicht nicht mit den Flügeln schlagen. Die Frage ist dabei nur: Bringen wir gutes Wetter – oder Unwetter hervor? In unserem unmittelbaren Lebensumfeld und auch in New York? Das ist eine lebenswichtige Frage, die immer wichtiger wird, je mächtiger die Technologien und Einflussmöglichkeiten werden, die wir zur Verfügung haben. Also brauchen wir auch ganz dringlich die inneren Kompetenzen, die uns einen verantwortungsvollen Umgang damit ermöglichen. Also brauchen wir Kompetenzen, die uns ermöglichen, von der Zukunft her zu fühlen, zu denken und zu handeln. Also machen wir uns doch einfach auf den Weg, der zwar steinig, aber doch höchst lohnenswert ist, auf den Weg der Weisheit!
Lifing: Die Kunst lange vital zu leben – aus eigener Kraft. Das ist auf jeden Fall eine gute Basis zur Weisheitsentwicklung. Ich würde Ihnen zusätzlich gerne noch das Wiseing ans Herz legen: Die Kunst, zu verstehen, wie alles zusammenhängt und die Kunst, den eigenen Platz im großen Lebensganzen einzunehmen.
Wiseing: Dazu müssen wir unser langes, vitales Leben aus eigener Kraft nutzen, um über den Rahmen unseres eigenen persönlichen Lebens hinauszugehen, andere Menschen unterstützen und auch hineinreichen in ein größeres gesellschaftliches Lebensumfeld, hineinreichen bis in Fragen und Themen ökologischer, sozialer, politischer Natur. So kann eine Weisheit erwachsen, die sich ums Ganze kümmert und das Ganze im Sinn hat. Eine Weisheit, die bedenkt, dass unsere Schmetterlingsflügelschläge gutes Wetter, aber auch Unwetter in ganz fernen Regionen unserer Erde erzeugen können, bis hin zu jedem einzelnen Elektron am Rande des Universums.
Denn die „Vervollkommnung des Menschen“, sagt der Weisheitsforscher Paul Baltes, „muss an sich eine sein, die sich nicht nur auf die Person bezieht, sondern auch auf das Gemeinwohl.“ Weisheit wohnt niemals dort, wo „eine egozentrische und egoistische Position „eingenommen wird, die vor allem dem Einzelnen für sich selbst ein besseres Leben geben soll.“ (Deutschlandfunk, 6.4.06) Weisheit wohnt nur dort, wo ein größerer Stern am Himmel steht, der über allen scheint und alle mit einbezieht. Weisheit wohnt dort, wo das Bewusstsein herrscht, dass derselbe Sternenhimmel über uns allen steht und wir Teil eines größeren Ganzen sind.
Es gibt da eine schöne Anekdote, die Roberto Assagioli sehr geliebt hat:
Ein Wissenschaftler, ein gewisser Mr. Beebe, verbrachte viele Abende mit seinem Freund, dem damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten Theodore Roosevelt. Eines Abends traten die beiden ins Freie, um den Sternenhimmel zu bewundern. Als sie den schwachen Andromeda Nebel erkennen konnten, sagte Beebe: „Dies ist der Andromeda Nebel. Er ist so groß wie die Milchstraße. Er ist einer von Millionen außergalaktischer Nebel, er besteht aus Millionen Sonnen, von denen jede größer als unsere Sonne ist.” An diesem Punkt unterbrach ihn Roosevelt und sagte lächelnd: „Ich glaube, wir sind jetzt klein genug. Wir können zu Bett gehen.” (Giovetti, S. 3)
Können sie erspüren, welch hohem Stern dieser Wissenschaftler folgte? Können sie erkennen, wie weit sein Blickwinkel sich auf diese Weise öffnen, wie umfassend seine Schau werden konnte?
Wiseing: Ist es nicht großartig, dass die Berliner Wissenschaftler die Weisheit als Thema aufgegriffen haben? Dass wir sie nicht in Schubladen verbannen, sie als „alte Mythen“ und „Kindermärchen“ abtun, sondern verstehen, dass die Märchen und Mythen uns Wichtiges berichten, eine Botschaft bringen wollen, die bis in unser Alltagsleben vordringen darf. Immer, wenn die Wissenschaft ein Thema aufzugreifen beginnt, wird es ernst. Dann gewinnt es an Popularität und wird gesellschaftsfähig. Vielleicht stehen wir von einer ganz großen „Alphabetisierungskampagne“ zur Weisheit? Wäre das nicht ein erstrebenswertes Ziel?

* Vortrag, gehalten am 3. Oktober 2009 auf der Herbsttagung der Gesellschaft für Gesundheits- und Mentalberatung (GGMB) mit dem Titel: Lifing: Die Kunst lange vital zu leben – aus eigener Kraft. Neue Aufgabengebiete für Gesundheits- und Mental-Couches

Literatur
Assagioli, R. (2004): Handbuch der Psychosynthese. Grundlagen, Methoden, Techniken, Nawo-Verlag CH- 8153 Rümlang/ZH
Assagioli, R. (2008): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung, Nawo-Verlag, CH-8153 Rümlang/ZH
Assagioli, R. (2008 b): Gespräche über das Selbst. Eine Unterhaltung mit Roberto Assagioli. In: Psychosynthese, Zeitschrift, 10.Jg., Heft 18, 3-6, Nawo-Verlag, CH-8153 Rümlang/ZH
Assagioli, R. (2009): Harmonie des Lebens, Nawo-Verlag, CH-8153 Rümlang/ZH
Bauer, J. (2007): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hoffmann und Campe, Hamburg
Buber, M. (1997): Das dialogische Prinzip, Schneider, Gerlingen
Csikszentmihalyi, M. (1997): Kreativität. Wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden. Klett-Cotta, Stuttgart
Filipp, S. H., & Staudinger, U. M. (Eds.) (2005): Entwicklungspsychologie des mittleren und höheren Erwachsenenalters, Vol. 6: Enzyklopädie für Psychologie. Hogrefe, Göttingen
Goldberg, E.(2007): Die Weisheitsformel. Wie Sie neue Geisteskraft gewinnen, wenn Sie älter werden, Rowohlt, Reinbek b. Hamburg
Goleman, D. (2002): Emotionale Intelligenz. DTV, München
Gradl, V. (2007): Vom Weg und vom Ziel. Was spirituelle Sehnsucht im Sinn hat, Eigenverlag, Terfens
Gradl, V. (2009): Von der Wissenschaft der Mütter, Eigenverlag, Terfens
Pfluger-Heist, U. (2007): In der Seele liegt die Kraft. Was unser Leben trägt. Nawo, CH-8153 Rümlang. (2. Auflage, 1. Auflage bei Herder)
Pfluger-Heist, U. (2009): Mal sehen, was das Leben noch zu bieten hat. Weise werden, aber wie? Eine Entdeckungsreise. Herder, Freiburg i.Br.
Reichert, G., Winter, K. (2006): Vom Geheimnis der heiteren Gelassenheit, Nawo-Verlag, CH-8153 Rümlang/ZH
Ricard, M.; Singer, W. (2008): Hirnforschung und Meditation. Ein Dialog, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
Siegel, D. (2007): Das achtsame Gehirn, Arbor Verlag, Freiamt
Staudinger, U. M. (2005): Weisheit, Lebens- und Selbsteinsicht, in: H. Weber & T. Rammseyer (Hrsg.), Handbuch der Psychologie. Hogrefe, Göttingen
Staudinger, U. M. (2005): Lebenserfahrung, Lebenssinn und Weisheit, in S. M. Filipp & U. M. Staudinger (Hrsg.), Entwicklungspsychologie des mittleren und höheren Erwachsenenalters, 740-757.  Hogrefe, Göttingen
Stern, D. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta, Stuttgart
Stern, D. (2007): Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag, Brandes & Apsel, Frankfurt a.M.





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